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Kein Anschluss unter dieser Nummer…

von Johannes Vatter

Seit knapp 20 Jahren feiert die Ökonomie ihren großen Siegeszug in Politik und Lebenswelt. Nun droht der Markt endgültig seinen Glanz und die Wirtschaftswissenschaft ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Soll der Draht zwischen Ökonomen und Gesellschaft weiterbestehen, müssen neue Strategien entwickelt werden.

Irgendwie ist es nicht fair. Gerade ist man doch erst aus dem Rezessionstunnel gefahren und jetzt droht die Sache bereits wieder an Schwung zu verlieren. Finanzkrise, Dollarabwertung und die Sparsamkeit der Bundesbürger werden der Hochkonjunktur wohl ein frühes Ende bereiten. Nach 2,9% 2006 und 2,6% im vergangenen Jahr, sanken die Wachstumsprognosen für dieses Jahr auf spärliche 1,6%. Dennoch, als Ökonom kann man eigentlich relativ zufrieden sein: Die Beschäftigungszahlen steigen nach wie vor, die Langzeitarbeitslosigkeit sinkt, Unternehmensbilanzen und öffentliche Haushalte stehen so gut da wie schon lange nicht mehr – die Inflation bleibt ein Drohgespenst. Arbeitsmarktreform, Steuerentlastungen, Rentenkürzung – so nennen sich die Eltern der neuen makroökonomischen Gesundheit – alles Projekte, die auf den Grundlagen unserer ökonomischen Zunft aufbauen. Nach Jahren der politischen Ignoranz war es endlich gelungen, wirtschaftswissenschaftliche und marktliberale Argumente Teilen der politischen Eliten plausibel zu machen. Die Ökonomik nahm eine thronende Stellung gegenüber anderen Sozialwissenschaften ein und zermürbte alles, was sich in ihren Weg stellte, mit unumgänglichem Zahlenwerk und internationalem Wettbewerb. Es war und ist noch immer die Zeit der Sinns und Rürups, die Epoche der Alternativlosigkeit – Zeitalter von Globalisierung und demographischem Wandel. Doch trotz so manchem Reformerfolg könnte diese Vormachtstellung der Wirtschaftswissenschaften bald schon vorbei sein, ohne dass sie als Retter und Held die Bühne verlässt – eine Tragödie zeichnet sich ab.

Für einen kurzen Augenblick schien der Plan aufzugehen. Viele Jahre hatte man gesät, nun sollte man ernten – mehr Wachstum, mehr Beschäftigung, mehr Partizipation, mehr Arbeitseinkommen. Und tatsächlich, der Ifo-Index stieg auf inzwischen unbekannte Höhen, die Exporte kletterten unaufhörlich, der Aufschwung war da…

Heute, im Jahr 2008, ist er so gut wie vorüber. Viele zufriedene Gesichter hat er jedoch nicht hinterlassen. Im Gegenteil, die marktwirtschaftliche Ordnung wird von immer breiteren Teilen der Bevölkerung mit großem Unbehagen beäugt. Die Rahmendaten sind bekannt: Unternehmen- und Einkommensteuerreform, Nachhaltigkeitsfaktor und Riestersparplan, Gesundheitsreform, Hartz IV, Rente mit 67 und jahrelanger Lohnverzicht. Die Unternehmensgewinne steigen rasant, die Reallöhne sinken, Mr. Gini macht sich auf und davon. 85% der Deutschen empfinden das gegenwärtige Wirtschaftssystem als ungerecht (Bertelsmann). Laut Umfrage der „Zeit“ erleben selbst 72% der FDP-Wähler einen Mangel an sozial gerechter Politik. Gleichzeitig zeichnen sich neue Stände ab: Die geldgläubige Elite und das abgehängte Prekariat verfestigen sich, dazwischen rette sich wer kann! Wer noch mithält im kapitalistischen Hamsterrad ist massivem Stress, Druck und immer schneller wachsenden Ansprüchen ausgesetzt – alle, die außerhalb stehen, schauen traurig zu. Die Medien tun ihr Übriges: Gierig saugt das Volk jeden neuen Skandal aus dem religiösen Reich des Geldes auf und verabschiedet sich innerlich von unserer Marktordnung. Heuschrecken, Nokia und Steuersumpf – Hayeks Jünger machen sich nicht unbedingt beliebt im Land oder zweifeln gar selbst an den Selbstheilungskräften des Marktes, wie es unsere Nummer 1, Josef Ackermann, mit Bezug auf die Kreditmalaise kürzlich offen zugeben musste. Aber die Privatbanken sind bekanntlich die letzten, die nach dem Staat rufen. 67% der Bevölkerung sind der Meinung, dass Bahn, Post und Energieversorgung staatlich zu organisieren sind, ebenso viele sprechen sich für den Mindestlohn aus und stolze 82% wollen die Rente mit 65 wieder. Es ließe sich noch vieles nennen, was die weitläufige Abneigung gegenüber Regeln und Kultur der kapitalistischen Gegenwart darstellt. Die grundlegende Frage ist jedoch: Handelt es sich bei diesem Phänomen der kollektiven Unzufriedenheit nur um ein kurzzeitiges Hadern in Zeiten der Anpassung hin zu einem liberalen Wohlfahrtsstaat, an den man sich eben gewöhnen muss, oder sind wir Zeugen eines klaren Trends weg von den marktwirtschaftlichen Grundüberzeugungen? Für Ökonomen ergeben sich daraus zwei Strategien:

(1) Konsequent und stur zugleich wäre es, der Neoklassik die Treue zu schwören und entgegen der mehrheitlichen Meinung der Gesellschaft auch weiterhin an den langfristigen Erfolg von Flexibilität, Lohnsenkung und Marktlösungen in allen Lebenslagen zu glauben. Hauptaugenmerk der Forschung läge weiterhin darauf, Effizienz und Wachstum zu fördern, in der Hoffnung neue Arbeitsplätze zu schaffen. Hierfür wären jedoch neue Erpressungsformeln nötig, denn das Volk wendet sich ab und die Politiker wanken zunehmend im starken linken Wind. Gleichzeitig toleriert dieser Weg die wachsende Ungleichheit und eine schwer umkehrbare Stratifikation der Gesellschaft. Werden mögliche ökonomische Erfolge auch im kommenden Jahrzehnt nicht zum Segen für große Teile der Gesellschaft, könnte die heutige Generation von Wirtschaftswissenschaftlern nur noch als Anwälte des globalen Finanzkapitals wahrgenommen werden.

(2) Eine mögliche Alternative hierzu wäre, für einen Moment inne zu halten, um auf die Bedürfnisse und Klagen der Menschen zu hören und diese ernst zu nehmen. Die Menschen sehnen sich eben nicht nach mehr Wettbewerb, damit sich bald ein weiteres Prozent der Gesellschaft einen Porsche leisten kann. Niemand will täglich überprüfen, ob der eigene Telefonanbieter noch der günstigste ist und kein Schüler will die Tabellen der Stiftung Warentest auswendig kennen bevor er an die Uni geht – stets getrieben von dem Gefühl, im Wettbewerb möglichst nicht als Verlierer dazustehen. Blickt man in die Umfragen besteht vielmehr der Eindruck, dass sich die Menschen nach mehr Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt sehnen. Sie wollen keinen größeren Kühlschrank, sondern Zeit für ihre Arbeit und eine Chance auf soziale Anerkennung. All das klingt windelweich gegenüber den harten Fakten des globalen Wettbewerbs oder der drohenden Kosten im Gesundheitswesen. Es handelt sich um Kostenstellen, die mikroökonomisch nur schwer in die Modelle einzubetten sind, weil sie nicht dem Maßstab Geld zu unterwerfen sind. Daher versagen unsere heutigen ökonomischen Werkzeuge in jenen Sphären des Psychischen und Kulturellen. Diese Erkenntnis sollte uns dazu ermuntern, neu über bestehende Probleme nachzudenken und derartige „Kosten“, wenn schon nicht einzubeziehen, doch wenigstens stärker wahrzunehmen und bei der wissenschaftlichen Interpretation zu berücksichtigen. Es bleibt die Aufgabe bestehen, auf Bezahlbarkeit und Realitätsnähe in jeder Diskussion zu pochen, aber es muss dabei der Mensch und nicht der Dax im Mittelpunkt stehen. Dabei gilt es auch, sich den Nachbardisziplinen der Soziologie und Psychologie zu öffnen und materialistische Marktdogmatismen fallen zu lassen ohne die alten Fronten der politischen Ideologien neu zu beleben. Dies könnte wissenschaftliche Fragestellungen von gestern korrigieren und neue formen: Wie kann ein höheres Maß an Gleichheit erzielt werden, bei möglichst geringen Opfern? Wie wirkt sich der heutige Wettbewerb auf soziale Strukturen aus? Wodurch entsteht Steuermoral? Wie wächst und funktioniert unser Wirtschaftssystem nachhaltig? Was liegt jenseits des materiellen Anreizes? …

Die Wirtschaftswissenschaften haben zu recht auf die ökonomischen Zwänge unserer Jahre und mögliche Lösungen hingewiesen. Wenn Ökonomen auch in Zukunft das Gehör der Republik finden wollen, dürfen sie sich nicht weiter von ihren sozialwissenschaftlichen Wurzeln entfernen, sondern müssen erreichbar sein und die menschlichen Nöte und Bedürfnisse im Blick behalten. Der freie Markt ist dabei ebenso wie der staatliche Eingriff nur ein Mittel, jedoch kein Zweck.