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Mensch und Markt – Kapitalismus aus einer psychologischen Perspektive

Von Christoph Breuninger (geändert am 16. 4. 2008 um 19:00)

Abstract: Der folgende Artikel geht zunächst auf die emotionale Anziehungskraft und Eleganz marktwirtschaftlicher Theorien ein. Es wird die These aufgestellt, dass unsere heutige Gesellschaft dennoch weniger freien Markt braucht. Eine geplante Beitragsreihe wird kurz vorgestellt, die diese These erläutern wird. In diesem ersten Beitrag wird entsprechend ausgeführt, dass im komplexer werdenden freien Markt die Konsumenten wachsende Kosten der Informationsbeschaffung zu tragen haben, dennoch strukturell oft nicht das bekommen können, was ihren Bedürfnisse entspräche, und ihre Bedürfnisse künstlich verändert werden.

Ich denke (und hoffe!) jede Studentin und jeder Student, der oder die sich mit den Wirtschaftswissenschaften befasst, kennt den eigentümlichen Zauber, der von Markttheorien ausgeht. Es ist die einzige mir bekannte sozialwissenschaftliche Theorieschule, die es an Eleganz mit physikalischen Formeln aufnehmen kann. Nur wenige Prämissen über den Menschen sind nötig, und es lässt sich ein System entwerfen, in dem aus dem egoistischen Streben jedes Einzelnen das größte Wohl für alle hervorgeht.

Natürlich, diese Prämissen zu akzeptieren verlangt oft, beide Augen fest zuzudrücken, sich weit von der eigenen Erfahrung zu entfernen. Allerdings lehrt uns die VWL-nahe Wissenschaftstheorie: Auch eine Theorie mit fehlerhaften Prämissen kann gut sein, wenn sie gute Vorhersagen macht. Nachdem die marktwirtschaftlichen Theorien sich diesbezüglich in vielen Bereichen ja gut schlagen, bleibt nur eine gewisse Verwunderung (oder Trauer), dass die politischen Maßnahmen, die sich aus ihnen ableiten lassen, bei Politikern und Wählern wenig Gegenliebe finden und nie in der Reinheit und Konsequenz, die ein Wirtschaftswissenschaftler richtig fände, umgesetzt werden.

Diese fehlende Umsetzung ist vielleicht aber auch ein Glück für die Markttheorien: sie erspart ihnen die entscheidende Bewährungsprobe. Denn ich bin überzeugt, dass sie an dieser Bewährung scheitern würden – weil ihre Annahmen über die Natur des Menschen, aus dem sich das wirtschaftliche System aufbaut, grob fehlerhaft sind, und diese Fehler nicht nur zu geringfügigen Unregelmäßigkeiten führen, wie sie allgemein anerkannt sind, sondern dem System eine ganz andere Dynamik und Richtung geben.

Und ich bin überzeugt, dass diese Mängel mit zunehmender Komplexität und Differenziertheit stärker ins Gewicht fallen. Woraus ich folgere, dass wir nicht nur davon absehen sollten, unser Wirtschaftssystem weiter an eine ideale Marktwirtschaft anzunähern, sondern in vielen Bereichen einen entgegengesetzten Weg beschreiten sollten.

Mehr Markt, mehr Konkurrenz, mehr Kapitalismus bedeuten für die heutige Welt schärfere soziale Ungleichheit, Stress und Leistungsdruck für den Einzelnen, ein Abschwächen von sozialem Verhalten und Verstärken von Egoismus. Produktion und Konsum entfernen sich immer weiter von den eigentlichen Bedürfnissen der Menschen und das politische System wird zunehmend von Akteuren der ökonomischen Sphäre beeinflusst, was es etwa erschwert, Ökologie und Klimaschutz im nötigen Maße voranzutreiben.

Diese Thesen werde ich in diesem und einer kleinen Reihe weitere Beiträge zu belegen versuchen, indem ich die Psychologie des Marktes aus verschiedenen Perspektiven beleuchte: Zunächst die psychologischen Eigenschaften des Menschen in seiner Rolle als Konsument, und die Folgen daraus für die Marktwirtschaft. Dann (in späteren Beiträgen) die „Psyche der Unternehmung“ bzw. des Menschen in seiner Rolle als Arbeiter, Angestellter, Manager, Unternehmer, weiterhin die „Eigendynamik des Eigennutzes“ bzw. die Folgen der Marktwirtschaft für den Menschen als soziales Wesen, und schließlich die Verflechtung von Wirtschaft und Politik.

Doch hiermit genug der Vorrede und auf ins erste Kapitel:

Der Mensch als Konsument, 1. Teil oder: Was können wir wissen?

Einen Kern der marktwirtschaftlichen Theorie bildet die Annahme des informierten Konsumenten. Das Wesen des Marktes liegt in der Wahlfreiheit, und diese ergibt nur Sinn, wenn der Konsument in der Lage ist, Entscheidungen in seinem Interesse zu treffen. Dies bedeutet, Kenntnis (Bewusstsein) von seinen Bedürfnissen zu haben und verschiedene Möglichkeiten zu deren Befriedigung beurteilen und bewerten zu können.

Dass diese Annahme nicht vollständig gültig ist, kann als allgemein anerkannt betrachtet werden. Dass sie nicht völlig falsch ist, ist genauso offensichtlich. Es stellt sich also die Frage: welchen Umfang und welche Bedeutung, welche Folgen, haben die Einschränkungen, die man an den Annahmen der Informiertheit und Entscheidungskompetenz vornehmen muss?

Zunächst ist festzuhalten, dass Information über verschiedene Angebote beschafft werden muss, was eine strukturelle Ineffizienz eines marktwirtschaftlichen Systems darstellt. Die Zeit oder andere Ressourcen, die aufgewendet werden müssen, um sich die zur Entscheidung nötigen Informationen anzueignen, sind zu dem Preis hinzuzurechnen, der für das Gut selbst bezahlt wird. Diese Kosten sind natürlich umso größer, je komplexer und vielfältiger der Markt ist (dies entspricht übrigens genau meiner zweiten Grundthese).

In einem relativ rudimentären und wenig technisierten Markt (etwa im Mittelalter), ist z.B. die Entscheidung für den Kauf eines bestimmten Apfels sehr einfach gewesen: Es waren lediglich Aussehen und Geschmack (in diesem Kontext noch ein guter Indikator auch für die Nährstoffhaltigkeit) zu beurteilen, eine Angelegenheit von Augenblicken. Weiterhin vielleicht Schädlingsbefall, auch das recht schnell herauszufinden. Schlimmstenfalls kam hierzu noch die Lagerfähigkeit, die erst mit der Zeit zu beurteilen war. Aber auf einem Markt mit relativ konstanten Anbietern und Sorten wusste man spätestens nach wenigen Jahren, was am besten zu den eigenen Bedürfnissen passte.

Man stelle sich die gleiche Kaufentscheidung in einem heutigen, ganz freien Markt vor, ohne gesetzliche Regelungen zum Einsatz von Düngemitteln, Pestiziden, Gentechnik, Nahrungsmittelchemie. Schon die Aufzählung genügt um eine Vorstellung davon zu geben, welche schwer einzuschätzenden Unterschiede Äpfel in ihrer Qualität haben können. Teilweise (wie etwa in den Bereichen Pestizide und Gentechnik) handelt es sich um Eigenschaften, die vom Laien überhaupt nicht beurteilt werden können. Selbst wenn sie (was in der Geschichte am Fall von Pestiziden bereits geschehen ist) starke Effekte auf die Gesundheit haben, kann diese der Einzelne nicht einmal im Nachhinein sicher dem konsumierten Apfel zuordnen. Dies umso mehr, als nicht nur die Variabilität der Apfelqualität um ein Vielfaches zugenommen hat, sondern auch die Anzahl der Konsumgüter und anderen Einflüsse, die auf den Menschen einwirken.

Es ist offensichtlich, dass diese Vielfalt nur bewältigt werden kann, indem irgendeine Form von Qualitätskontrolle auf höherer Ebene eingesetzt wird, sei dies nun der Staat oder andere Zertifizierungsstellen. Wobei sich in letzterem Fall das Problem auf einer Metaebene wiederholt: Wie soll ein Konsument die Vertrauenswürdigkeit einer von vielen (sonst ist es kein freier Markt) Zertifizierungsorganisationen einschätzen, mit allen Aspekten, die die Qualität der Arbeit einer solchen Organisation ausmachen?

Es zeigt sich also, dass ein freier Markt mit zunehmender Komplexität zunehmende Informations- und Bewertungskosten mit sich bringt, wenn man nicht von einem grundsätzlichen „Guten Willen“ der Anbieter ausgehen will, es dem Konsumenten recht zu machen. Dies kann man allerdings nicht, im Gegenteil: Der Anbieter wird vom System dazu gezwungen, sich auf die Aspekte der Qualität zu konzentrieren, die vom Konsumenten wahrgenommen werden können, und andere zu vernachlässigen. Polemisch wertend könnte man auch sagen: den Konsumenten zu hintergehen. Denn die Aspekte eines Gutes, die leicht (oder überhaupt) zu beurteilen sind, sind nicht automatisch dieselben, die dem Konsumenten wichtig wären.

Führen wir die These des „systematisch erzwungenen Hintergehens“ noch etwas aus: Angenommen, ein moderner Anbieter von Äpfeln sieht sich Konsumenten gegenüber, die nach den beschriebenen, klassischen Kriterien die Qualität von Äpfeln beurteilen und Kaufentscheidungen treffen. Als weiteres Entscheidungskriterium neben der Qualität ist selbstverständlich der Preis zu berücksichtigen.

Wenn die Käufer Äpfel ohne Würmer bevorzugen, und von Pestiziden nichts schmecken oder sonst unmittelbar bemerken, bringt der Einsatz von Pestiziden einen Wettbewerbsvorteil. Wie diese Pestizide langfristig auf den Konsumenten wirken ist dabei nicht wichtig – wohl aber, wie viel die Pestizide kosten. Ähnliches gilt für die Zucht von neuen Sorten bzw. den Einsatz von Gentechnik: Wenn es dem Anbieter gelingt, einen Apfel zu erzeugen, der die Geschmacksvorlieben des Konsumenten besser trifft, ist er gegenüber anderen Anbietern im Vorteil, egal ob diese Sorten immer noch gesund und von hoher Nährstoffqualität sind. Dasselbe gilt für Sorten, die nicht den Geschmack verbessern, aber den Ertrag erhöhen, Schädlingsbefall reduzieren, pestizidresistenter machen (übrigens ein Hauptanwendungsgebiet der heutigen Gentechnik) oder Lagerung, Transport oder Ernte einfacher und billiger machen. Das perfide ist, dass der Anbieter im Wettbewerb gezwungen ist, solche „Verbesserungen“ unter Umständen gegen sein besseres Wissen über mögliche Folgen für den Konsumenten durchzuführen, um nicht von Konkurrenten abgehängt zu werden.

Man bedenke, dass das Beispiel immer noch ein relativ simples Gut zum Gegenstand hat. Es ist vor diesem Hintergrund plausibel, dass die beschriebenen Phänomene für komplexere Güter noch weitere Dimensionen annehmen.

Darüber hinaus war im Beispiel nur von den Qualitätsaspekten die Rede, die den Konsumenten selbst betreffen. Die Wirkung, die das Gut in seiner Entstehung (einschließlich z.B. dem Transport) auf Arbeiter, andere Menschen, Tiere oder Umwelt hat, stellt eine weitere Dimension dar. Für diese ist es noch schwieriger, Informationen zu erhalten und in die Entscheidung mit einzubeziehen. Gleichwohl stellt es für viele Menschen heute einen wichtigen Aspekt dar, besonders etwa in Handelsbeziehungen zu Entwicklungsländern.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein komplexer freier Markt bringt nicht mehr die Güter hervor, die von den Konsumenten eigentlich gewünscht werden, sondern führt zu einem Übergewicht der offensichtlichen bzw. leicht zugänglichen Aspekte der Güter. Dabei besteht ein systematischer Zwang, die anderen Aspekte zu missachten, selbst wenn diese den Konsumenten sehr wichtig wären.

Der Mensch als Konsument, 2. Teil oder: Was können wir wollen?

Bei diesen Überlegungen wurde eine weitere Dimension noch außer Acht gelassen, die zunehmend an Bedeutung gewinnt. Nicht nur sind Anbieter genötigt, ihr Produkt in den Aspekten zu optimieren, die vom Konsumenten wahrgenommen werden können. Sie können darüber hinaus darauf Einfluss nehmen, welche Bedürfnisse die Konsumenten haben, und diese dahin verändern, dass sie besser zu seinen Angeboten und Angebotsmöglichkeiten passen. Und im Können liegt wiederum schon ein Müssen, sobald ein Anbieter sich dieses Mittels bedient und andere nicht hinter dem Konkurrenten zurückbleiben können – zumindest nicht, ohne langfristig vom Markt zu verschwinden.

Diese These kann durch die reine Tatsache, dass Werbung einen immer umfangreicheren Industriezweig darstellt, und Unternehmen niemals so viel Geld investieren würden, ohne eine entsprechende Rendite zu erhalten, bewiesen werden. Sie stellt eine fundamentale Revolution des ökonomischen Menschenbildes dar, in dem der Markt auf ursprünglich gegebene, „echte“ und unveränderliche Bedürfnisse bezogen dargestellt wird.

Auch hier gilt: In einem weniger entwickelten Markt, in einer weniger entwickelten Gesellschaft, wo elementare Bedürfnisse noch eine große Rolle spielen, mag der Markt weitgehend wie in den Theorien funktioniert haben, für Werbung und manipulierte Bedürfnisse gab es wenig Spielraum. Inwieweit der heutige Markt sich mit echten oder induzierten Bedürfnissen beschäftigt kann ein Bummel im nahe liegenden Kaufhaus illustrieren.

Dieser wachsende Mechanismus, in anderen Menschen Bedürfnisse zu wecken, um sie anschließend zu erfüllen, erscheint mir als grobe Ineffizienz der Marktwirtschaft, und als Erklärung für die Tatsache, dass wir mit immens gesteigerten Produktionsmöglichkeiten und Effizienz nicht wesentlich weniger arbeiten als früher. Diese Erklärung halte ich übrigens für viel plausibler als die wirtschaftswissenschaftliche Idee von grundsätzlich (und natürlicherweise) unbegrenzten Bedürfnissen der Menschen.

Es zeigt sich also, dass eine Marktwirtschaft die Bedürfnisse ihrer Mitglieder systematisch verfehlt, und zwar umso mehr, je komplexer das Wirtschaftsgeschehen ist. Die Produktion konzentriert sich einseitig auf leicht zugängliche Merkmale der Güter, und es werden künstliche Bedürfnisse in den Menschen erzeugt. Sich diesen Tendenzen wenigstens teilweise entgegenzustemmen verlangt Einsatz von Zeit, Energie und Geld von Seiten der Konsumenten.

Um für einzelne Güter und Wirtschaftsbereiche zu entscheiden, ob eine kapitalistische oder gemeinwirtschaftliche Bereitstellung effizienter ist, müssen diese Nachteile (bzw. Kosten) der Marktwirtschaft quantifiziert und mit ihren Vorteilen und den Vor- und Nachteilen alternativer Wirtschaftsformen verglichen werden. Hinzu kommen noch weitere und tiefer gehende Nachteile, die in den weiteren Beiträgen behandelt werden.

Das Vorurteil, der freie Markt sei immer effizienter, muss detailliert und für verschiedene Bereiche konkret diskutiert werden und einem fundierten Urteil Platz machen.

Anregungen, Ideen, Gedanken und Kritik sind herzlich willkommen!

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