Unter den drängendsten Problemen der Gesellschaft rangieren derzeit viele Themen. Eines jedoch nicht: Das materielle Auskommen von Personen mit höheren Einkommen. Genau dafür will die Bundesregierung aber Schulden aufnehmen. (von Johannes Vatter)
Auch in der FDP bestehen keine Zweifel. Ein offenes Eintreten für die explizite Entlastung der „Leistungseliten“ würde in Zeiten zunehmender Lohn- und Vermögensungleichheit schlicht als Affront verstanden werden.
Also hat sich die Koalition darauf geeinigt, „kleine und mittlere Einkommen“ zu entlasten, was alle Mitglieder der Koalition wie einstudiert auch regelmäßig öffentlich erklären. Mit dem Kompromissvorschlag, der am 6. November im Kanzleramt erarbeitet wurde, soll dieses vielfach und vollmundig formulierte Versprechen nun eine konkrete Gestalt bekommen.
Zur Entlastung „kleiner und mittlerer Einkommen“ werde demnach der Grundfreibetrag in den kommenden Jahren erhöht. Schließlich könne es nicht gewollt sein, dass die kalte Progression laufend die Steuerlast nach oben treibt. Die Maßnahmen seien damit ein wesentlicher Beitrag zu mehr Steuergerechtigkeit – so der Tenor des Regierungsgipfels.
In der Folge der Vereinbarung wurden die Ergebnisse auf ungewöhnlich zahme Weise über die Medien bekanntgegeben – stets mit dem Hinweis: Ziel sei die Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen. Erst langsam erklingen die kritischen Stimmen. Sieht man von den Verlautbarungen zur europäischen Schuldenkrise einmal ab, wurde die Öffentlichkeit aber schon lange nicht mehr derart an der Nase herumgeführt. Tatsächlich beruht der Steuerkompromiss allein auf dem Vertrauen in die allgemeine Unkenntnis des deutschen Abgabgensystems, denn die Erklärung zu den geplanten Reformen ist gleich aus drei Gründen scheinheilig und irreführend.
1. Bei jeder Anhebung des Grundfreibetrags profitieren sämtliche Einkommensteuerzahler. Die Steuerlast von Beziehern hoher Einkommen profitieren sogar am meisten, da auch sie den höheren Freibetrag geltend machen können und zudem höhere Grenzsteuersätze zu bezahlen haben. Eine Erhöhung des Grundfreibetrages von 1000 Euro führt somit bei Hocheinkommensbeziehern (ab 250.000 Euro Reichensteuer: 45 Prozent) zu einer jährlichen steuerlichen Entlastung von 450 Euro. Wer dagegen nur über ein Bruttojahreseinkommen von 25.000 Euro verfügt, hätte nur knapp 300 Euro mehr zur Verfügung. Die absolute Entlastung ist „oben“ also rund 50 Prozent höher als „unten“. Die Entlastung der kleineren und mittleren Einkommen ist somit zwar nicht unbedingt falsch – präziser wäre jedoch die Formulierung „kleine, mittlere und (vor allem auch) große Einkommen“. Wäre es den Koalitionären um die alleinige Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen gegangen, hätten sie die Erhöhung des Freibetrages mit einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes kombiniert. Dies haben sie aber nicht getan. Vielmehr bedeutet Steuergerechtigkeit in der Logik der Koalition, allen und besonders Spitzenverdienern kurz vor der Wahl auf Pump ein paar hundert Euro pro Jahr mehr in den Taschen zu lassen.
2. Neben der Entlastung „kleiner und mittlerer Einkommen“ ging es den Koalitionären offiziell auch um die Bekämpfung der kalten Progression. Auch in diesem Punkt reicht das rethorische Geschick der Regierung offenbar aus, um wesentliche Teile der deutschen Presselandschaft zu täuschen. Wäre es der Koalition tatsächlich darum gegangen, die kalte Progression zu bekämpfen, hätte sie eine Gesetzesänderung erarbeitet, die eine regelmäßige automatische Tarifanpassung – je nach Veränderung der Verbraucherpreise – vorsieht. Praktisch reklamieren die Politiker jedoch Leistungen für sich, die Ihnen in keiner Weise zustehen. Bei dem Vorhaben handelt sich weder um eine nachhaltige Steuerentlastung, da diese allein durch die voraussichtlichen Preis- und Lohnsteigerungen der kommenden zwei Jahre wieder aufgefressen wird, noch bekämpfen sie ersthaft die kalte Progression. Es hat fast den Anschein als hätte Herr Guttenberg wieder eine Position in der Regierung – diesmal tatsächlich als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kanzleramt.
3. Endgültig bizarr erscheinen die Aussagen von Rösler, Merkel und Seehofer vor dem Hintergrund des gleichzeitig geplanten Anstiegs des Beitragssatzes in der Pflegeversicherung. Dieser fällt mit 0,1 Prozentpunkten zwar vergleichsweise gering aus, kommt aber einer logischen Vergewaltigung der zuvor geäußerten Absicht einer Entlastung „kleiner und mittlerer Einkommen“ gleich, da eben jene kleineren und mittleren Einkommen im Kern nicht durch Steuern, sondern durch Sozialversicherungsbeiträge belastet werden. Hinzu kommt, dass das Äquivalenzprinzip im Rahmen der Pflegeversicherung lediglich dem Grundsatz nach verankert ist. Praktisch hat die Abgabe, ebenso wie der Beitrag zur gesetzlichen Krankenkasse einen Steuercharakter. Und diese steuerähnliche Abgabe wird ab dem ersten Euro eines sozialversicherungspflichtigen Einkommens bis zur Bemessungsgrenze erhoben und besitzt somit zum Teil einen regressiven Charakter. In Anbetracht der Tatsache, dass sich im Rahmen der Pflegeversicherung so manche versicherungsfremde Leistung versteckt – wie etwa die Mitversicherung von Familienangehörigen –wäre es ordnungspolitisch bedenkenswert gewesen, den Beitragssatz zu senken und einen Steuerzuschuss zu gewähren. Unter diesen Umständen hätte man zu Recht von der Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen sprechen können.
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