Skip to content

Was würde Walter Eucken wohl zur Globalisierung sagen?

Von Johannes Vatter

Die gegenseitige Erfüllung von Bedürfnissen, der Tauschhandel, steht auch im 21.Jahrhundert im Zentrum ökonomischer Analysen. Ob Immobilienkrise, Bahnstreik oder Siemensaffären, es geht immer um das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage und die daraus entstehenden Probleme. Daran wird sich auch 2008 nichts ändern. Als Ökonomen gehen wir im Allgemeinen davon aus, dass bei den allermeisten Transaktionen beide Vertragsparteien ihre Situation verbessern. Dies wird meist aus der simplen Überlegung abgeleitet, dass ohne ein klares Interesse an einem Tauschhandel kein einziger Akteur auf dem Markt eine Willenserklärung abgegeben würde, welche erst zu einem Austausch führt. Handel produziert Nutzen, so lässt sich schlicht formulieren.

Dass der Horizont menschlicher Entscheidungsmechanismen im 19.Jh. für eine derartig einfache Paretoeffizienz zwischen den Handelnden ausreichte, mag naheliegend erscheinen. Die Komplexität des wöchentlichen Lebensmitteleinkaufs konnte, so ist anzunehmen, von der überwiegenden Mehrheit der Akteure ökonomisch nutzenstiftend bewältigt werden. Inwiefern Kauf- oder Verkaufsentscheidungen der sich im hochentwickelten Kapitalismus befindenden Gegenwart stets wohl überlegt sind und zum Wohle des Käufers bzw. des Verkäufers beitragen, hinterfragt der Artikel von Herrn Kappius vollkommen zurecht (vgl. „Äpfel und Bananen: Was nützen sie wirklich?“). Aber gehen wir einmal davon aus, dass auch in unserer materiell gesättigten und von Werbung durchfluteten heutigen Welt jede Fertigpizza, jeder Flachbildschirm und jeder Lippenstift, der den Ladentisch überquert, den beteiligten Vertragsparteien einen Nutzenzugewinn beschert. Nehmen wir also an, dass wirklich jede Kaufentscheidung zum Wohle beider Vertragsparteien sei. Selbst unter dieser schroffen Annahme bleibt die Frage nach möglichen Auswirkungen auf Außenstehende, die dem Tauschhandel einen Zacken aus seiner nutzenstiftenden Krone brechen könnten. Diese Außenwirkungen sind uns als Externalitäten hinreichend bekannt.

Die Freiburger Schule lehrt uns wiederum das Ideal der privilegienfreien Ordnung. Eine auf Privateigentum basierende, marktwirtschaftlich organisierte Wirtschaftsform, wobei dem Staat lediglich die Rolle zukommt, dafür zu sorgen, dass keiner der privaten Akteure über sein wirtschaftliches Handeln hinaus nach einer größeren politischen Macht strebt, als jener, die ihm als Bürger von Rechtswegen zusteht. Eine der staatlichen Kernaufgaben nach Eucken ist also die Bekämpfung von Begehrlichkeiten und Lobbyismus. Am besten wäre es möglicherweise sogar, wenn es rechtlich gar keinen Spielraum für Subventionen und Begünstigungen gäbe – quasi ein in der Verfassung verankertes Privilegienverbot! Dieser Idee kann man vieles abgewinnen. Viele Gruppen und Personen schöpfen auch heute täglich Renten ab, die letztlich schwer zu rechtfertigen sind. Seien es Pharmaunternehmen oder Energieriesen, Berg- oder Milchbauern, jedes Jahr verteilt die Gesellschaft Milliarden um, ohne dass irgendjemand im Stande wäre hierfür zwingende Argumente zu liefern. Was hat Euckens Idee von einer privilegienfreien Ordnung nun aber mit Externalitäten zu tun?

Euckens Argumentation folgend, sind die beiden Dinge eng verwandt, denn letztlich stellt auch jede Externalität, die nicht internalisiert ist, ein Privileg dar. Externe Effekte, die bei Tauschgeschäften nicht berücksichtigt werden, beinhalten eine klare Begünstigung derjenigen Personen, die an einer solchen Transaktion beteiligt sind. Es handelt sich wie im Bereich vieler Subventionen um eine Bereicherung auf Kosten Anderer, denn wenn etwa ein Unternehmen seine Emissionen kostenlos in die Luft entlässt und die gesamte Gesellschaft dafür die Rechnung bezahlt, kommt dies einem steuerfinanzierten Privileg sehr nahe. Wenn dies jedoch so ist, ergibt sich zunächst ein Zielkonflikt zu Euckens Ideal einer privilegienfreien Wirtschaft. Bei Eucken hatte sich der Staat dadurch ausgezeichnet, dass er sich aus den wirtschaftlichen Prozessen heraus gehalten hat, dass er eben keine Subventionen vergab und keine „Extrawürste“ verteilte. Im Falle von Externalitäten können Subventionen oder Lenkungssteuern theoretisch ein Segen sein und lösen Probleme anstatt sie zu verursachen. Eine mögliche privilegienfreie Ordnung existiert also erst dann, wenn alle erfassbaren und kurierbaren externen Effekte via Steuern oder Reglementierung in die Preise der Güter und Dienstleistungen einbezogen werden. Erhöhte Abgaben für energieintesive Branchen oder die Gewerbesteuerbefreiung gemeinnütziger Vereine stellen so keine diskriminierende oder privilegierende Eingriffe des Staates dar, sondern die Annäherung an eine privilegienfreie Ordnung.

Eucken löste diesen vermeintlichen Widerspruch zwischen einem schlanken Staat, der sich allein auf ein striktes Regelwerk beruft, und der privilegienfreien Ordnung nicht zuletzt mit dem häufigen Verweis auf das Haftungsprinzip. Betrachtet man klassische Lehrbücher der Ökonomie werden externe Effekte meist recht schnell abgehandelt. Daran hat sich auch heute nicht viel geändert. Ein Viehzüchter passt unzureichend auf seine Herde auf, ein Fabrikbesitzer entlässt seine giftigen Abwässer in einen nahe liegenden Fluss. All diese Beispiele haben inzwischen einen langen Bart und waren sicherlich weit verbreitete Phänomene, sei es im wilden Westen oder während der europäischen Industrialisierung. In China oder Brasilien kann man letzteres heute vielleicht wieder in beängstigendem Ausmaß beobachten. Zur Lösung jener Konflikte hat Eucken auf eine entsprechende Ausgestaltung der Haftungsregeln gesetzt. Wer Außenstehende schädigt, so die einfache Idee, müsse nach Recht und Gesetz zum Schadensersatz gezwungen werden können. Bei einer entsprechenden Vergabe von Eigentumsrechten lässt sich so im besten Fall sogar der Verunreinigung lokaler Flussläufe vorbeugen.

Welche Rolle spielen externe Effekte aber in unserer heutigen Zeit? In einer Zeit, in der sich nahezu jeder Teil der Erde mit jedem anderen Teil in einer regen Tauschbeziehung befindet. In einer Zeit, in der sich Herstellungsprozesse arbeitsteilig auf mehrere Kontinente verteilen und der Konsument in der Tat nicht mehr weiß wie ein Kühlschrank hergestellt wurde, geschweige denn von wem und unter welchen Umständen. Während 90% der Bevölkerung im 19 Jh. noch regelmäßig Zeugen einer der seltenen Schlachtungen wurden und die negativen externen Effekte, die eine Tötung eines Lebewesens mit sich bringt, zumindest noch erahnen konnte, gehen 90% der Bevölkerung im 21 Jh. ohne Skrupel zur Fleischvitrine und versorgen sich regelmäßig mit „Grundnahrungsmitteln“. Gleichzeitig verabschiedet sich ein Biosystem nach dem anderen. Täglich verbrauchen wir vielleicht mehr als zehnmal so viel Energie wie der durchschnittliche Chinese und 100mal so viel wie der durchschnittliche Afrikaner. Aber die Steuern, die wir von unseren Geschäftsreisenden und Pendlern abverlangen stecken wir wieder in unsere Straßen und Renten anstatt die Geschädigten zu kompensieren. Im Gegensatz zu früher müssen sich entwickelte Volkswirtschaften nicht so sehr um lokale Externalitäten kümmern, sondern sich massiven globalen und intertemporären Externalitäten stellen. Unsere gesamte Industriegesellschaft genießt folglich Privilegien, die andere Gesellschaften oder andere Lebewesen zu bezahlen haben. Keine Haftungsregeln und kein Gericht gewähren Schadensersatzansprüche an Menschen in Entwicklungsländern oder unsere Kinder. Dabei diskutieren wir mit einer Arroganz spanischen Eroberer, ob etwa ein Tempolimit auf der deutschen Autobahn angebracht wäre und beschweren uns bei der europäischen Umweltkommission im Auftrag von Daimler und BMW. Wie ein Unternehmen in den 20ern gegenüber dem deutschen Staat, sichert sich heute der deutsche Staat, und damit seine Bürger und Unternehmer, massive Privilegien gegenüber großen Teilen der Welt und zukünftiger Generationen. Was würde wohl Walter Eucken empfehlen, um jene globalen Privilegien abzubauen, den Laissez-Faire zu beenden? Vielleicht einen starken Weltstaat oder ein globales Kartellamt, dass ganze Volkswirtschaften dazu verdonnert Ersatzzahlungen nach Bangladesch oder in den Sudan zu überweisen?

Nimmt man keine allzu optimistische Perspektive ein, wird es ein solches Organ auf absehbare Zeit nicht geben. Die Einführung wirksamer Haftungsregeln würde einer tragischen Selbstkasteiung der entwickelten Volkswirtschaften gleich kommen und hat damit (noch) wenig Chancen. Möglich wäre ein solches Regime erst, wenn eine kritische Masse an Individuen und Unternehmen zur Aufgabe der vielen Privilegien bereit sind. Weniger Fleisch, kein Auto, keine Fernreisen, … Dies wiederum setzt einen weitreichenden Kenntnisstand globaler Zusammenhänge und ein gesteigertes Maß an globaler Empathie voraus. Walter Eucken kann hier durchaus als Vorbild betrachtet werden. Er trat nicht nur als aufklärender und erhellender Ökonom in Erscheinung, sondern lebte im Professionellen wie im Privatem ein hohes Maß an Empathie vor.

3 Comments