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In der Höhle des Löwen: Professor Raffelhüschen im Neujahrsgespräch über Waldspaziergänge, Medien und die Hoffnung auf einen konstruktiven Umgang innerhalb der Fakultät

Das Interview führten Christian Schmidt und Johannes Vatter

ZG: Sehr geehrter Herr Professor Raffelhüschen, zunächst einmal vielen Dank, dass Sie zwischen der Bildzeitung und der FAZ noch eine Lücke für ein kurzfristiges Gespräch mit dem Zunehmenden Grenznutzen gefunden haben. Lassen Sie uns beginnen mit einem kleinen Ausflug in die Geschichte des 20. Jh. Was hat Sie bewogen Ökonom zu werden?

Raffelhüschen: Das war eine ganz komische Geschichte, denn eigentlich wollte ich in die Höhle des Löwen blicken. In den 70er Jahren, also der Zeit meiner Jugend, war ich doch, sagen wir mal, etwas links bewegt. Aber ich wollte mitreden können und musste feststellen: Der Löwe ist ganz überzeugend.

ZG: Was waren die zentralen ökonomischen Fragestellungen und akademischen Konfrontationen der frühen 80er Jahre?

Raffelhüschen: Für uns als Schüler und Studenten ging es im Wesentlichen um eine recht diffuse Kapitalismuskritik, denn eigentlich wussten wir gar nicht, wie der so fürchterliche Kapitalismus wirklich funktioniert. Also wollte ich den hinterfragen, sprich studieren, wie er denn funktioniert. Nun ja, und dann wurde ich recht schnell ein überzeugter Verfechter der Marktwirtschaft, weil die überzeugte eher als „Kalle“ Marx oder Marcuse.

ZG: Wer Sie aus Vorlesungen kennt, weiß, dass Sie gerne auf Ihre friesische Herkunft anspielen. Niebüll, der Ort in dem Sie geboren sind, liegt nur wenige Kilometer von Dänemark entfernt. Wie kam es, dass Sie am anderen Ende der Republik gelandet sind?

Raffelhüschen: Ursprünglich komme ich wirklich vom Land da draußen und bin dort zwischen Schweinen und Rindern und was nicht alles aufgewachsen. Aus meiner Heimat ging ich aber gleich nach dem Abi bereits gen Süddeutschland, nämlich nach Kiel. Das war eine riesige Bewegung. Kiel war eine Großstadt aus meinem Blickwinkel. Ich war schlicht ein wenig provinziell – das muss man wohl so sagen. Von Kiel aus ging es dann allerdings schneller, zunächst nach Berlin, dann nach Aarhus, von dort wieder Kiel, dann Boston, später Bergen,… es gab also schon ein paar Stationen und eigentlich bin ich heute wieder relativ nahe an meinem Ausgangspunkt.

ZG: Wie kam es zu ihrer akademischen Themenausrichtung? Als Sie Student waren, also immerhin 15 Jahre nach dem ruckartigen Rückgang der Geburtenraten Ende der 60er, wie verbreitet war damals der Begriff des demographischen Wandels unter Ökonomen?

Raffelhüschen: Die Diskussion begann erst während meiner Studienzeit. Das Studium selbst war noch undemographisch, wenn man das so sagen kann. Da ging es immer nur um Keynesianismus vs. Monetarismus bzw. Neoklassik. Und da habe ich wohl irgendwann schlicht die Seite gewechselt. Für mich war der Anfang keynesianisch geprägt und am Ende war ich Neoklassiker, der sich dann auch noch stark der numerisch-mathematischen Richtung zugewandt hatte. Das waren zunächst die Themen. Die ersten finanzwissenschaftlichen Aufsätze im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der sozialen Sicherungssysteme gab es erst in den frühen 80ern. Lange hatte man den Pillenknick ja auch für ein kurzfristiges Phänomen gehalten. Mit Demographie im engeren Sinne habe ich mich zum ersten Mal beschäftigt als ich wieder in Kiel als Assistent Halt machte. Das müsste etwa 1985 gewesen sein. Seitdem beschäftige ich mich mit dem Zeug.

ZG: Der Begriff der Nachhaltigkeit kommt ursprünglich aus der Forstwissenschaft; gehen Sie hin und wieder im Wald spazieren?

Raffelhüschen: Meine Frau treibt mich oft dazu, was aber nicht heißt, dass ich Waldspaziergänge besonders mag. Alles ist relativ, der Wald ist sehr schön hier und ein Waldspaziergang ist schon gut! Zum Punkt: Die Wiederbelebung des Nachhaltigkeitsbegriffs kommt von einer anderen akademischen Flanke. Das mit der Forstwirtschaft ist ja im Grunde schon viel älter. Übernommen wurde die Terminologie der Nachhaltigkeit eigentlich in den 70er Jahren aus der Wachstumstheorie. Hier ging es um steady-state Gleichgewichte und diese sind definitorisch nachhaltige Wachstumsgleichgewichte – also auf einem sustainable growth path. Parallel hatten wir aber auch schon andere Geschichten am laufen, wie etwa die Arbeiten von den beiden Amerikanern, Alan Auerbach und Larry Kotlikoff. Die bastelten an allgemeinen numerischen Gleichgewichtsmodellen. Jene waren immer nachdem sie sich in einem Schockzustand befunden hatten, wieder auf dem Weg in eine nachhaltige, stationäre Welt. In Deutschland war der Begriff der Nachhaltigkeit etwas in Vergessenheit geraten, kam aber dann ebenfalls mit solchen allgemeinen numerischen Gleichgewichtsmodellen wieder. Wolfgang Wiegart vom Sachverständigenrat und ein paar andere waren hier die Ersten, dann aber auch meine Generation. Nachhaltigkeit oder Tragfähigkeit wurden in unserem Fall also eher aus der englischsprachigen Ökonomie entnommen, als von den Ökologen. Erst später fanden wir heraus, dass der Begriff von den deutschen Forstwissenschaftlern her kam.

ZG: Haben Sie einen Riester-Vertrag?

Raffelhüschen: Logisch! Ich wäre doch blöd wenn ich keinen hätte, schon alleine wegen der Kinderzulagen.

ZG: Würden Sie Studenten zu einem Riestervertrag raten?

Raffelhüschen: Nicht jedem. Der Punkt ist doch der, dass Menschen nun mal verschieden sind und die Ausprägung der Risikoaversion sehr unterschiedlich sein kann. Unterm Strich würde ich demjenigen zuraten, der eine konkrete Vorstellung hat, z. B. eine Familie plant, und weiß, dass er risikoavers ist. Die Zulagen und insbesondere die Kinderzulagen sind ja doch erheblich. Denn selbst für einen verbeamteten Prof, der eigentlich genügend zu erwarten hat, ist das lukrativ; der nimmt das mit. Sozusagen ein Mitnahmeeffekt – das hätten wir eigentlich auch ein bisschen besser regeln können (grinst).

ZG: Was ist Ihre Hoffnung, welcher Anteil des Konsums eines durchschnittlichen Rentners im Jahr 2050 wird durch ein kapitalgedecktes Versicherungssystem finanziert werden?

Raffelhüschen: Betrieblich und privat zusammen genommen werden wir uns in einer Welt von zwei Dritteln umlagefinanzierter zu einem Drittel kapitalgedeckter Vorsorge bewegen. Möglicherweise auch 60:40. Was die Gesundheit betrifft sehe ich, wenn alles entsprechend läuft, ein vernünftiges Verhältnis von 50:50. Noch viel extremer ist es bei der Pflege: Da sollte das Kapitaldeckungsverfahren eigentlich dominant sein. Bei der Rente ist im Grunde alles in die Wege geleitet. Nur müssen wir jetzt sehen, ob die Leute aufwachen oder nicht. Bisher ist etwa ein Drittel aufgewacht, ein weiteres Drittel ist noch etwas verschlafen und wir haben noch ein Drittel, das pennt…

ZG: …und die gilt es jetzt aufzuwecken?

Raffelhüschen: Die Frage ist, ob die überhaupt Grund dazu haben aufzuwachen. Denn bei der generösen Grundsicherung ist fraglich, ob es sich für viele überhaupt lohnt Konsumverzicht zu üben, denn der zusätzliche Konsum von morgen wird durch die Transfersysteme aufgefressen. Das bedeutet, eine gewisse Versicherungspflicht für die unteren Einkommen wird es wohl geben müssen, denn das sind ja genau die, die noch nicht reagiert haben. Möglicherweise wird sich die kommende Expertenkommission wieder über das Obligatorium Gedanken machen, was nebenbei besser wäre als die Sockelrente, die der Kollege Rürup vorschlägt. Sockelrente heißt, ich behandele einen armen Alten besser als einen armen Jungen, und das kann natürlich nicht sein, denn Alter ist kein Verdienst, alt werde ich von selbst.

ZG: Die Rentenversicherung gilt als weitgehend demographiesicher. Die Nachhaltigkeitslücke wurde in den vergangenen Jahren drastisch zurückgefahren. Für wie maßgeblich halten Sie dabei den Einfluss ökonomischer Beratung?

Raffelhüschen: Für sehr maßgeblich. Im Zentrum stand die Rürup-Kommission. Hier wurden ja alle Dinge vorgebetet. Von ihr ging der Nachhaltigkeitsfaktor aus, die größte Rentenkürzung, die es je gegeben hat. Das doppelte Alterungsproblem, das auf zu wenigen Kindern und einer hohen Lebenserwartung beruht, hat aber auch noch einen zweiten demographischen Eingriff verlangt, nämlich die Rente mit 67: den Faktor für die Langlebigkeit. Auch sie ging von der Kommission aus und ist auch umgesetzt worden. Dafür sind wir verprügelt worden aber jetzt haben wir sie durch.

ZG: Was ist mit den letzten 1500 Mrd. € der Nachhaltigkeitslücke im Bereich der Rente? (für Rentenexperten)

Raffelhüschen: Naja, sagen wir mal so, wir haben drei Viertel des Problems geschafft. Nun sollte man etwas Luft holen. Das restliche Viertel kann im Nachgang, quasi unterwegs erledigt werden. Zwischendurch gibt es noch einige Diskussionen, wie z.B. die Obligatoriumoption 2009, die Abschaffung der Sonderprivilegien der langjährig Beschäftigten und dann kommen ab 2011 die ersten Einphasungen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Und wenn das alles durch ist, also etwa im Jahr 2014, dann kann man noch mal über die restlichen Probleme sprechen. Aber vielleicht haben wir bis dahin ja auch ein paar mehr Kinder. Das muss man sehen.

ZG: Und wie entscheidend ist aus Ihrer Sicht die Arbeit von Organisationen wie der Stiftung Marktwirtschaft oder der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft?

Raffelhüschen: Zunächst einmal hilft es ja nichts, wenn sie mit dem Hammer auf etwas drauf schlagen und nichts bewegen. Die Politik muss von den Experten solch eine Hilfestellung erhalten, so dass sie auch das Überbringen von schlechten Botschaften überleben kann. Und das ist der Job von den Experten, die im Regelfall im Hintergrund wirken. Die INSM und die Stiftung Marktwirtschaft sind im Gegensatz dazu eher medienorientiert. Die Stiftung Marktwirtschaft ist ein neoliberaler Think-tank, wobei neoliberal von den meisten ja als Schimpfwort verwendet wird, also sagen wir besser ordo-liberal, damit niemand meckert, obwohl wir ja eigentlich „neo“ meinen. Die Negativbelegung ökonomischer Begriffe durch Soziologen war nun mal sehr erfolgreich, da haben wir eben verloren …; jedenfalls hat die Stiftung Marktwirtschaft eher eine Thinktankfunktion. Sie bestellt beispielsweise Kommissionen, wie etwa die Kommission Steuergesetzbuch zur Reform der Körperschaftsbesteuerung oder veranstaltet Konferenzen zu dringenden Fragen der Zeit. Wir als Forschungszentrum Generationenverträge beteiligen uns in der Kommissionsarbeit und veranstalten einige Pressekonferenzen im Jahr gemeinsam mit diesen Organisationen. Und mit „wir“ meine ich jetzt eben nicht nur mich, sondern vor allem auch die Assistenten, die sind ja immer dabei. Ohne die wäre ich sowieso aufgeschmissen.

ZG: Was unterscheidet die Stiftung Marktwirtschaft von einer gut organisierten Lobby?

Raffelhüschen: Das ist ganz einfach – die chronische Unterfinanzierung. Dennoch, als Lobby für die Marktwirtschaft – das ist im Übrigen jene Wirtschaftsordnung, die uns zum reichsten Deutschland gemacht hat, das wir jemals hatten – kann man die Organisationen schon bezeichnen.

ZG: Ihre Medienpräsenz ist vgl. mit der anderer Professoren gelinde gesagt überdurchschnittlich. Gab es einen Zeitpunkt an dem Sie sich bewusst für diesen Weg der Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse entschieden haben?

Raffelhüschen: Das habe ich nicht bewusst forciert. Das ist irgendwie gekommen. Ich weiß auch nicht wieso eigentlich und es hat auch schon vor der Rürup-Kommission begonnen. Mit der Kommissionsarbeit ist die Medienpräsenz dann natürlich angestiegen und verharrt seitdem auf relativ hohem Niveau. Ich ging eigentlich davon aus, dass es relativ schnell wieder zurückgehen würde und die Medien das Interesse verlieren würden – haben sie aber nicht. Naja, und nun rätselt man warum. Es ist natürlich so, dass durch die Pressekonferenzen, die wir als Forschungszentrum Generationenverträge in Berlin machen, schon eine ganze Menge Aufmerksamkeit entsteht. Wenn wir Vorschläge machen, dann sind die ja meistens flankiert durch eine ganze Menge statistisches Datenmaterial. Und daran sind Journalisten natürlich meistens interessiert. Daneben gibt es wohl tatsächlich etwas, was mich wirklich auszeichnet. Ich glaube, dass ich ein bisschen das Empfinden dafür habe, komplexe Dinge manchmal in drei, vier Sätzen auf den Punkt zu bringen. Genau das bringt den Medienleuten eigentlich am meisten, denn wenn sie um elf Uhr anrufen und um zwölf muss der Artikel geschrieben sein, dann können sie kein Buch zwischendurch lesen. Da müssen sie jemanden anrufen, der auf den Punkt bringt, was sie nicht verstanden haben. Das ist womöglich die Geschichte, die hinter meiner Medienpräsenz steckt. Und die Fähigkeit lässt sich vielleicht aus meiner Historie erklären. Ich komme nun mal aus einem vollkommen unakademischen Haushalt. Wie gesagt, ich bin nach der Schule Schweine füttern gegangen; das war meine Welt. Wenn sie aber aus einer unakademischen Familie stammen, dann müssen sie halt ihren Brüdern, die allesamt jetzt erfolgreiche Unternehmer sind, oder ihren Eltern erklären können, was sie da im Studium eigentlich so machen. Was heißt denn Allokation? Versuchen Sie mal einem Nicht-Ökonomen dieses Wort zu erklären! Wenn sie das in drei Sätzen auf den Punkt gebracht bekommen, dann hört ihnen vielleicht jemand zu.

ZG: Was glauben Sie bewegt die Veröffentlichung einer ihrer Artikel in einem relativ angesehenen Journal verglichen mit einem Auftritt bei Maybrit Illner?

Raffelhüschen: Also sagen wir so, ich brauche inzwischen beides für mich. Man braucht als Wissenschaftler irgendwo sicherlich Anerkennung in der Öffentlichkeit, denn sonst würde man sie nicht suchen. Wir betreiben angewandte Wissenschaft. Ohne ein Gefühl dafür, dass die ganze Sache auch Sinn macht, hätte ich wahrscheinlich nicht den notwendigen Spaß am „number crunching“ . Und den brauchen Sie, sonst geht es nicht. Der Artikel, der irgendwo in einem Journal läuft, den braucht man natürlich auch für seine Eitelkeit und sein Ego. So ist es eben – wir Ökonomen ranken uns. Und jemand, der es eben in die Zeitschrift für Kleckerwirtschaft geschafft hat, ist etwas anderes als jener, der eben im American oder European Economic Review etc. steht. Das ist unsere Skalierung. Und da will ich für meinen Teil immer eher ein bisschen weiter oben sein. Das liegt wohl in der Natur des eitlen Profs und bekanntlich wird man ja ohne Eitelkeit auch nicht Professor.

ZG: Sie ernten regelmäßig kämpferische Leserbriefe und kritische Blogeinträge und gelten in so manchen Kreisen der Republik als kalter Agitator im Dienste der Versicherungen und des Sozialabbaus. Was glauben Sie, wie es zu diesem Bild gekommen ist?

Raffelhüschen: Das ist für mich tatsächlich ein Rätsel. Ich weiß nicht wie das zu Stande kam. Jeder, der mich kennt, weiß ziemlich genau, dass man alles mit mir diskutieren kann, und dass ich da relativ offen bin. So funktioniert auch dieses Institut hier. Das hat nichts mit kalten hierarchischen Strukturen zu tun, sondern ist genau das Gegenteil. Ich hoffe, dass jeder, der mit mir wirklich in Kontakt gerät, weiß, dass das Bild aus dem Internet vollkommen falsch ist. Ich habe keine Ahnung, wer da im Internet unterwegs ist. Da sehe ich manchmal ganz komische Typen am Werk. Und einige von denen habe ich auch als ziemlich kalt erlebt. Es gab ja teilweise nicht nur Angriffe auf meine Person, sondern auch Angriffe auf meine Familie, die also sehr persönlich wurden, bei denen ich selbst auf einmal sehr heftig reagiert habe. Das war manchmal hart an der Grenze, sodass man sich fragt, ob es ohne Medienpräsenz nicht besser wäre.

ZG: Wie sehen Sie sich selbst?

Raffelhüschen: Ich bin ordo-liberal! Ich bin neoliberal! Ich bin Neoklassiker, durch und durch. Ich glaube, dass wir bestimmte Anreize, gewisse Leistungsmechanismen brauchen, um unser Deutschland einigermaßen vernünftig zu gestalten. Und dieses Deutschland ist das Deutschland meiner Kinder. Es muss manchmal eben etwas passieren, damit das Ganze hier vernünftig weitergeht. Es ist ein tolles Land! Es muss doch gut gehen hier. Damit das so bleibt, müssen wir eben, gerade wenn wir etwas falsch gemacht haben, wie z.B. zu wenige Kinder in die Welt gesetzt zu haben, sehen wie wir mit den Konsequenzen klar kommen. Da bin ich doch das Gegenteil von dem, für was mich manche Leute halten. Die Leute halten mich immer für einen Pessimisten. Aber jeder, der mich kennt, weiß, dass ich eine ziemlich optimistische Grundhaltung habe, eine extrem optimistische Grundhaltung!

ZG: Als Experte für sozialstaatliche Themen stehen Sie sicherlich in einem besonderen Verhältnis zu den Gesellschaftsgruppen, welche Sie unter die akademische Lupe nehmen. Inwieweit versuchen Sie sich in die Lage der jeweils Betroffenen hineinzuversetzen?

Raffelhüschen: Das dürfen sie gar nicht oder zumindest erst dann, wenn sie fertig sind. Politikberatung müssen sie nach dem Gesetz der großen Zahl machen! Es geht gar nicht anders, denn rationale Politik darf nicht an individuellen Spezialsituationen festgemacht werden. D.h. man braucht da eine grobe Linie, die auch erstmal abstrahiert, die erst einmal gar nicht sieht, dass ein Rentner eben ein Mensch ist, dass ein Junkie ein Mensch ist, usw. Das dürfen sie nicht machen. Die Politik muss zunächst auf den statistischen Durchschnitt ausgerichtet sein; wenn sie dann die Leinen im Griff haben, können sie sich auch Gedanken machen über die, die auf der rechten oder linken Seite der Verteilungsfunktion stehen. Aber das kommt immer hinterher.

ZG: Wann waren Sie zum letzten Mal in einem Altenwohnheim?

Raffelhüschen: Das ist erst ein paar Wochen her, denn ich bin, entgegen der vielen Unkenrufe, nicht nur in der Versicherungswirtschaft tätig, sondern auch z.B im Stiftungsrat vom Augustinum, einem evangelischen Träger für Pflegeeinrichtungen.

ZG: Vor wenigen Wochen titelte der Spiegel „Die Gerechtigkeitslücke“. Mehr und mehr Menschen sehen in den gegenwärtigen Einkommensentwicklungen ein Problem. Nach Allensbach finden nur noch 15% der Bürger, dass es in diesem Land gerecht zugeht. Würden Sie den Bürgern unterstellen statistisch und medial fehlgeleitet zu sein, unter Neidkomplexen zu leiden oder empfinden Sie diese Entwicklung als Forschungsauftrag für Finanzwissenschaftler?

Raffelhüschen: Die Frage der Gerechtigkeit kann kein Forschungsziel sein. Es wird immer etwa die Hälfte einer Einkommensverteilung sagen, dass sie sich ungerecht behandelt fühlt, weil sie weniger haben als der Durchschnitt. Es ist nun mal so, dass das Leben Gewinner und Verlierer kennt, und die Verlierer halten sich immer für ungerecht und die Gewinner für gerecht behandelt. Das liegt in der Natur des Menschen. Gerechtigkeit lässt sich auch schwer definieren, noch kann man sie herstellen, denn wenn man nicht weiß, was es ist, wie sollte das möglich sein? Was wir diskutieren können ist, inwieweit wir das Prinzip der Gleichheit verwirklichen wollen. Viele Menschen empfinden Gleichheit schließlich als gerecht. Die vollständige Gleichheit kann allerdings nicht sachgerecht sein, denn dies hieße, dass wir jeden Anreiz zum Handeln vergessen und dann können wir uns gleich wieder auf die Bäume verabschieden. Das geht also nicht. Es ist die Qual der Wahl und das muss politisch ausgefochten werden. Wie weit allerdings Ungleichheit tolerierbar ist, ist die eigentliche Werturteilsentscheidung und da kann die Wissenschaft auch nicht wirklich mitreden, sondern das muss eine Gesellschaft per Abstimmung bestimmen. Was wir im „wissenschaftlichen Angebot“ haben sind statistische Messinstrumente für mehr oder weniger starke Formen von Gleichheit. Und das ist genau das, was wir hier tun. Wir messen mittels der Generationenbilanz wie stark intergenerativ Gleichheit hergestellt wird. Die Entscheidung, wie wir unterschiedliche Generationen belasten wollen, damit wir es als gerecht empfinden, das ist dann Sache der Politik.

ZG: Nehmen wir an, die Republik stimmt entsprechend ihres Hungers nach Gerechtigkeit ab und wir erleben bei der nächsten Bundestagswahl einen Ruck nach links, was würden sie als Ökonom empfehlen, wenn mehr Umverteilung bei möglichst hoher Effizienz erreicht werden soll?

Raffelhüschen: Was ist links? Das Problem ist, dass das Spektrum nicht mehr so klar zu definieren ist. Aber wie auch immer, Umverteilung gehört in das Steuersystem, wo wir alle aus allen Einkunftsarten zahlen und wo der Reiche unter uns überproportional zur Entlastung des Armen beiträgt. Das ist die einzig effiziente Form der – wie auch immer gewollten – Umverteilung.

ZG: Kommen wir auf Deutschland zurück. Sind Sie mit der Systementscheidung zu Gunsten der „Dualen Einkommensteuer“ aus Effizienzgesichtspunkten zufrieden?

Raffelhüschen: Die Kommission Steuergesetzbuch hatte einen anderen Vorschlag. Insofern kann ich da nur die Note „Second-best“ verteilen. Aber wie auch immer: Der Grundgedanke ist ja, dass wir jene Faktoren stärker belasten, die weniger mobil sind, und der ist ja richtig. Ob Kapitalerträge überhaupt besteuert werden sollten, was ja letztlich eine Doppelbesteuerung darstellt, ist die eigentliche Grundsatzfrage. Und sie wissen ja auch, dass ich im Heidelberger Steuerkreis bin und eher für eine konsumorientierte Besteuerung eintrete. Ich will also keine niedrige Besteuerung von Kapitaleinkünften, sondern überhaupt keine, denn das Kapital wurde ja bereits besteuert. Es ist allerdings besser, man hat eine Flat-rate, anstatt die Sache weiterhin in der progressiven Einkommensteuer zu belassen, denn sonst ist die Besteuerung über den Lebenszyklus so hoch, dass es der Kapitalbildung nicht sonderlich dienlich ist. Und Kapital brauchen wir nun mal, denn sonst werden wir die Probleme, die auf uns zukommen, kaum lösen können.

ZG: Was ist wahrscheinlicher, die Abschaffung der Gewerbesteuer oder die Abschaffung des Zölibats?

Raffelhüschen: Ich halte beides für extrem unwahrscheinlich.

ZG: Sehr gut, nun haben Sie ein beachtsamen Teil ihrer Weltsicht dargeboten. Vorletzte Frage: Welche Fragen haben Sie im Kopf, die Sie als Wissenschaftler in Zukunft angehen möchten?

Raffelhüschen: Das ist jetzt vielleicht komisch genug, aber eigentlich bin ich mit dem, was wir hier haben, ganz zufrieden. Ich habe mir vorgenommen, das, was ich bisher gemacht habe, auch weiterzuverfolgen. Das Forschungszentrum ist eine fantastische Sache geworden. Ich denke, die Leute fühlen sich wohl hier, ich fühle mich wohl hier und wir machen eine ganze Menge. Außerdem haben wir so manches bewirkt, einiges an Output erzeugt. Es fällt ja schwer alles zu lesen, was wir hier schreiben. Bei der Lehre geht es, glaube ich, auch ganz gut. Wir haben Spaß miteinander: Sowohl Studenten, als auch Assistenten und auch ich. Und dann ist das doch im Grunde in Ordnung.

ZG: Was wünschen Sie der Fakultät 2008?

Raffelhüschen: Die Einsicht, dass es besser ist, wenn man sich an bestimmte Usancen im Leben gewöhnt und nicht vergisst, dass wenn man sich nicht daran hält, es unter Umständen später auch andere geben wird, die sich nicht daran halten. Sonst kommen wir in Konflikte, die nicht besonders wohltuend sind. Die Konflikte der letzten Jahre haben die Fakultät schlichtweg paralysiert und waren absolut destruktiv. Deshalb wünsche ich mir in erster Linie eine konstruktive Grundhaltung, denn wir sind eigentlich gar nicht so schlecht, wie wir uns bislang verkauft haben.

Zunehmender Grenznutzen: Lassen wir diesen schönen Wunsch als optimistischen Schlussakkord erklingen. Herr Professor Raffelhüschen, wir bedanken uns für das Gespräch.


10 Antworten mit einem Satz:

1. Die Globalisierung ist ein Segen!

Absolut, denn sie hat Deutschland zum reichsten Deutschland gemacht, dass es jemals gab.

2. Der Klimawandel wird in seiner Bedeutung überschätzt!

Total, es ist die Fortschreibung eines Trends aus einem Minimum von Beobachtungszeitpunkten.
(Anmerkung der Redaktion: Wir empfehlen hier noch mal genauer hinzusehen.)

3. Die deutsche Staatsquote sollte gesenkt werden!

Richtig, weil sie zu hoch ist.

4. Hartz IV hat zu einer Verbesserung des Status Quo geführt!

Das ist richtig, aber die meisten haben es noch nicht begriffen.

5. Der Beitragssatz der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung wird in fünf Jahren wieder über 3,3% liegen!

Das glaube ich nicht, weil Arbeitslosigkeit nicht wirklich unser Problem ist, sondern der Mangel an Leuten, die die Arbeit machen können.

6. Es muss mehr Geld für bereitgestellt werden!

Es muss mehr Geld für die Entwicklung unserer Köpfe bereit gestellt werden, denn das ist das einzige Kapital, was wir haben.

7 Es kann viel Geld im Bereich … eingespart werden!

Es kann unheimlich viel Geld im Bereich staatlicher Verwaltung, staatlicher Administration, staatlicher Gängelung, staatlicher Regulierung, etc. gespart werden – aber das gilt auch für eine ganze Menge von Bürokratie in privatwirtschaftlichen Organisationen – da könnten wir auch dran arbeiten.

8. Die Erbschaftsteuer sollte nicht reformiert, sondern abgeschafft werden!

Sie sollte ersetzt werden durch einen Zuschlag auf die höchsten Einkommen, so würde man administrativ viel besser fahren und gleichzeitig die Reichen, die mehr leisten können, auch stärker belasten.

9. Das Handeln von Menschen ist im Kern von monetären Motiven bestimmt!

Klar und dann natürlich noch von den Gefühlen, den Launen, …

10. Die Ökonomisierung der Universität sollte weiter vorangetrieben werden!

Naja, so ein paar Sachen muss die Universität auch mal unökonomisch tun dürfen, weil sie Experimentierfeld ist und bleiben muss.

Und schließlich die ultimativen ZG-Polarfragen:

1.Keynes oder Friedman?

Friedman

2.Berge oder Meer?

(nach sehr langem Zögern) Na gut, dann eben Meer.

3.Anleihen oder Optionen?

Da bin ich immer noch auf der Optionsseite.

4.Wein oder Sport?

Sport und Bier.

5.Obama oder Clinton?

Clinton.

6.Familie oder Karriere?

Familie.

7.Beethoven oder Beatles?

Dann doch Beatles.

8. Steinbrück oder Merz?

Merz.

9. Auto oder Zug?

Zug.

10. Staatsdienst oder Freie Wirtschaft?

Da fragen sie einen Staatsdiener, der ziemlich viel freie Wirtschaft macht. Nee, ich bin schon gern beim Staat.

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